„Fenster der Verwundbarkeit“ ist ein militärstrategischer Begriff. Er drückt eine Lücke im Verteidigungssystem aus und stellt eine mögliche Einbruchstelle des Gegners dar. Um eine realistische Chance auf Sieg im Kampf zu haben, lohnt sich also die Mühe dieses Fenster ausfindig zu machen und einen tiefen Blick hinein zu werfen. Wenn wir den Ausdruck „Fenster der Verwundbarkeit“ auf unser menschliches Dasein übertragen, bedeutet es, dass wir alle solch ein Fenster in uns tragen. Es ist da, immer präsent – durchsichtig und zerbrechlich – ein fragiler Zugang zu all dem, was es in uns zu schützen gilt. Willkommen im Leben.
Das „Fenster der Verwundbarkeit“ symbolisiert per se unser Menschsein, unsere Verletzlichkeit, unsere Sterblichkeit
Kaum geboren, kommen wir sofort mit diesem Aspekt unseres Seins in Kontakt und wollen seitdem nichts sehnlicher als möglichst viel Abstand dazu gewinnen. Und als phantasievolle Geschöpfe hatten wir schnell Strategien zur Hand, um diesen Abstand zu realisieren: Unterdrückung, Leugnung, Flucht, Benebelung unserer Verwundbarkeit. Denn schon in unserer Kindheit haben wir schnell verstanden, dass Verwundungen schmerzhaft sind, unerwartet aus dem Nichts auftauchen und unkontrollierbar erscheinen. Also nichts, womit man in Berührung kommen will.
Doch genauso schnell, wie sich die Verletzlichkeit in unserem Leben offenbarte, wurde auch deutlich, dass menschliche Weiterentwicklung und Glück nur durch das Wagnis der Verwundbarkeit möglich sind. Das beginnt beim Laufen lernen; im Wettkampf mit anderen; beim Aussprechen der Worte „Ich liebe Dich“; bei der Bitte um Hilfe; beim Einschlagen von Wegen, deren Ausgang ungewiss ist. Eine simple Rechnung also.
Weiterentwicklung gibt es nur um das Wagnis der Verwundbarkeit
Doch auch hier ließ unsere Kreativität uns nicht im Stich und präsentierte neue Strategien, um unsere Unsicherheiten, Ängste und Schwächen unter Kontrolle zu halten und sie am besten gar nicht mehr zu spüren: Schutz und Sicherheit schaffen – und zwar lieber zu viel als zu wenig. Es gilt das „Fenster der Verwundbarkeit“ um jeden Preis zu schützen, auch wenn es das Aufbauen von zahllosen inneren und äußeren Mauern bedeutet oder das Abschließen von Versicherungs-Verträgen, die uns die Illusion vermitteln sollen, unser „Fenster“ sei weitgehend geschützt. Und zu dieser Sicherheits-Strategie gehört ebenfalls, nur dann Wagnisse einzugehen, selbst wenn sie längst überfällig sind, wenn das Leben uns dazu zwingt aufgrund von unerwarteten Ereignissen, Krankheit, Katastrophen. Das Hauptproblem dieser Strategie ist jedoch, dass wir uns in Zeiten von Katastrophen, Krankheiten etc. in einem Zustand von Schwäche befinden und es unendlich schwieriger ist, in solch einem geschwächten Zustand die notwendigen Veränderungen vorzunehmen und zu meistern, als wenn man Veränderungen in einem relativ stabilen Zustand angeht.
Ein weiterer Haken an der Schutz-und-Sicherheit-Strategie ist der, dass die inneren und äußeren Mauern, die wir aufgebaut haben, nicht nur andere daran hindern, in unser „Fenster“ hinein zu blicken und unerlaubter Weise einzusteigen, sondern dass es auch unsere eigene Sicht in unser Inneres und ins Außen versperrt. Wie unsagbar klein und begrenzt ist das Sichtfeld eines Menschen, der sich innerlich und äußerlich so verzweifelt verbarrikadiert hat?
Ist unser „Fenster“ auf diese Weise verdunkelt, ist auch unser Verstand weitgehend lichtlos und abgeschnitten von unserer Intuition und Kreativität und damit sind wir abgeschnitten von uns selbst und anderen Menschen. Unser „Fenster der Verwundbarkeit“ muss offen sein, denn es ist der einzige Weg, um nach innen und nach außen zu sehen, der einzige Weg zu Beziehung mit sich selbst und anderen, die einzige Möglichkeit zu wirklicher Verständigung und Weiterentwicklung. Doch wie die eigene Verwundbarkeit bei sich selbst aushalten? Wie sie bei anderen Menschen ertragen? Wann gilt es Verwundbarkeit zu vermeiden und wann gilt es ein Wagnis einzugehen?
Menschen wollen nicht verwundet werden, was zutiefst menschlich und verständlich ist, und verwunden deshalb oft, weil sie verwundbar sind. Wie also diesen Kreislauf durchbrechen und eine Balance herstellen zwischen durchsichtig und zerbrechlich sein und sich doch schützen können?
Lassen Sie uns, um diese Fragen zu beantworten, in das Fenster unserer eigenen Verwundbarkeit blicken und darin einsteigen, mit dem Gedanken als wäre es das Fenster unseres besten Freundes, um ihn zu unterstützen, und nicht das unseres Gegners. Wir wollen folgendes herausfinden:
Was macht die Verwundbarkeit in uns verwundbar?
Das Fatale an diesem Punkt war bisher, dass wir die ganze Zeit versucht haben, von unserer Verwundbarkeit wegzukommen und unsere Gedanken sich in Kreisen gedreht haben wie beispielsweise: Ich will nicht schwach sein; Ich will nicht verletzt werden; Ich will nicht unsicher wirken; Ich will keine Angst haben; Ich will nicht unglücklich sein etc. Und genau diese Gedankenschleifen sperren ein und halten gefangen. Denn zum einen will man nicht die Tatsache akzeptieren, dass Menschsein Verwundbarkeit bedeutet und zum anderen wiederholt man unaufhörlich, was man nicht will, verliert allerdings keinen Gedanken darüber, was man will. Wichtig dabei ist auch zu wissen, dass unser Unterbewusstsein das Wort nicht nicht kennt, daher versteht es unsere Selbsteingaben nur wie folgt: Ich will schwach sein; Ich will verletzt werden; Ich will unsicher wirken; Ich will Angst haben; Ich will unglücklich sein etc.
Fest steht, wirkliche Stärke ist ohne das Annehmen und Akzeptieren der eigenen Verwundbarkeit unmöglich. Jeder Mensch, der die eigene Verletzlichkeit wegdrücken will, setzt eine Maske von Stärke auf. Das Festhalten an dieser Maske raubt enorm viel Energie und lässt einen heimlich doch zittern und schaudern. In dem Moment, wo man zutiefst die eigene Verwundbarkeit annimmt und akzeptiert, löst sich eine Art Bann und man wird fähig, wirkliche Stärke zu entwickeln, basierend auf einem stabilen Fundament von Selbsterkenntnis und Selbstannahme.
Folgende Punkte sind dabei unterstützend:
- Werden Sie sich über Ihre Schwächen, Unsicherheiten, Fehler, Ängste etc. bewusst und nehmen Sie diese völlig an ohne sie zu verurteilen. Erlauben Sie sich selbst Ihre Verwundbarkeit, denn jeder Mensch ist verwundbar und es ist in Ordnung. Sie müssen nicht so tun als wären Sie unverwundbar. Weder Sie selbst noch andere Menschen glauben Ihnen das.
- Akzeptieren Sie voll und ganz die Verwundbarkeit anderer Menschen. Das bedeutet auch, die Verwundbarkeit anderer Menschen nicht zu verurteilen und auch bewusst hinzusehen, wenn andere Menschen bedürftig sind und Hilfe benötigen.
- Befreien Sie sich von einem Bild der Perfektion. Kein Mensch ist perfekt. Perfekt sein zu wollen, setzt unnötigerweise unter Druck. Hingegen befreit es und ist ein Zeichen eines hohen Selbstwertgefühls, wenn man sich selbst und andere an kein Bild der Perfektion bindet.
- Wenn Sie die eigene Verwundbarkeit angenommen haben, ist es wichtig sich auf die eigenen Stärken zu konzentrieren und vor allem gedanklich damit in Kontakt zu treten und zu bleiben. Was sind Ihre Stärken ganz konkret? Stärken Sie Ihre eigenen Stärken und leben Sie diese mehr und mehr.
- Befreien Sie sich vom Bewerten und Verurteilen von allem und jedem so weit als möglich. Wenn man die eigene Verwundbarkeit und die anderer angenommen und akzeptiert hat, was nützt es dann noch zu bewerten und zu verurteilen? Es hält nur unnötigerweise zurück und verhindert inneren und äußeren Fortschritt.
- Arbeiten Sie an Ihrem Selbstwertgefühl. Das Erhöhen Ihres Selbstwertgefühls ist eines der hehrsten Ziele, die Sie sich im Leben setzen können.
- Wagen Sie Dinge, die Ihnen Angst bereiten, denn sie sind der schnellste Weg sich weiter zu entwickeln.
Der Philosoph Platon ließ seinen weisen Lehrer Sokrates in einem fiktiven Dialog folgendes sagen: „Ein Krieger steht nicht für Perfektion oder Sieg oder … Unverwundbarkeit … er steht für absolute VERWUNDBARKEIT… das ist die WAHRE Tapferkeit.“
Wie ist es mit Ihnen? Beschäftigt Sie das Thema Verwundbarkeit genauso, wie es mich sehr lange beschäftigt hat? Wie gehen Sie mit diesem Thema um? Welche Erfahrungen haben Sie dazu gemacht? Ich freue mich, wenn Sie Ihre Erfahrungen mit mir teilen.